Wenn der Sog sozialer Medien süchtig macht

By on 11. Dezember 2019

Hamburg – Nachdem morgens der Wecker geklingelt hat, greifen viele zum Smartphone. Sie checken Nachrichten, das Wetter und schauen, was die Freunde auf Twitter, Instagram oder Facebook so treiben. Das wiederholt sich mehrmals am Tag: in der Schule, an der Bushaltestelle, abends auf der Couch.

Das Beispiel ist fiktiv, doch spiegelt es die Realität vieler Leute wider. So verbrachten 2017 Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren im Schnitt knapp drei Stunden täglich allein mit sozialen Medien. Das hat eine Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit und des Deutschen Zentrums für Suchtfragen gezeigt.

Das exzessive Scrollen durch die Timelines – also die Liste aller Beiträge von Freunden und anderen Teilnehmern, denen man folgt – kann zur Sucht werden.
Laut der DAK-Studie zeigten 2,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen einen problematischen Gebrauch sozialer Medien. Zahlen für Erwachsene liegen noch nicht vor.

Soziale Medien sind nichts Schlechtes

An sich sind Instagram, Snapchat und Co. nichts Schlechtes, darin sind sich Experten einig – im Gegenteil. «Soziale Medien bedeuten auch eine Chance», betont etwa Rainer Thomasius, Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. In der Pubertät gehe es zum Beispiel darum, sich von der Familie zu emanzipieren und Rollen auszuprobieren. Dabei können soziale Medien helfen.

Doch es gibt Kehrseiten. «Das Hauptproblem an sozialen Medien ist, dass sie so viele Dinge zur Verfügung stellen, die uns ansprechen», sagt Tobias Dienlin, Medienpsychologe an der Universität Hohenheim. Man sieht in schönen Bildern und gefällig geschrieben Kurztexten, was das soziale Umfeld treibt. Man veröffentlicht Beiträge – und bekommt Bestätigung. «Likes sind Komplimente, und wir Menschen freuen uns über Komplimente», sagt Dienlin.

Zudem sollen Signalfarben, Benachrichtigungstöne und andere Gestaltungselemente dafür sorgen, dass wir so lange wie möglich auf der Seite bleiben. Der mögliche Effekt: Man möchte immer weiterlesen und kann nicht aufhören. Ob Menschen dies im Griff haben oder Gefahr laufen, die Kontrolle über die Nutzung zu verlieren, hängt viel von der eigenen Persönlichkeitsstruktur ab.

Ständiger Druck und falsche Bewältigungsstrategien

Besonders anfällig für eine Nutzung mit negativen Folgen sind Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl. Wer sich im realen Leben auch noch schwer tut, Freunde zu finden, bekommt in sozialen Medien das gute Gefühl, gesehen und gemocht zu werden – auch wenn der ständige Druck, vermeintlich immer neue Inhalte von sich ins Netz stellen zu müssen, zugleich sehr unglücklich machen kann.

Problematisch ist auch, wenn bei Langeweile, Ärger oder Trauer automatisch Twitter oder Instagram zur Ablenkung geöffnet werden. Um Probleme zu bewältigen, sollte man andere Strategien parat haben als den Blick auf den Smartphone-Bildschirm.

Kontrollverlust ist ein Suchtkriterium

Damit Ärzte von einer Sucht sprechen, müssen mehrere Kriterien zutreffen. Eine der wichtigsten ist Rainer Thomasius zufolge der Kontrollverlust: Wer also nicht mehr darüber nachdenkt, wann und warum er postet, scrollt und liked und damit auch nicht einfach aufhören kann, hat womöglich ein ernsthaftes Problem.

In so einer Situation helfen Menschen wie Christian Groß. Er ist Suchttherapeut in Gütersloh und Pressesprecher beim Fachverband Medienabhängigkeit. In seine Privatpraxis kommen immer wieder Eltern, in Sorge um gestresste und unaufmerksame Kinder, die in der Schule abbauen und immer mehr Zeit in virtuellen Welten verbringen.

Keine Reglementierung bei Sozialen Medien

Das Problem: «Bei anderen Suchtmitteln haben wir eine Reglementierung, bei sozialen Medien nicht», sagt Groß und plädiert für mehr gesellschaftliche Aufklärung.

Nutzer können sich mit Hilfe verschiedener Anwendungen immerhin selbst kontrollieren: Für Android-Nutzer gibt es zum Beispiel die kostenlose Google-App
«Digital Wellbeing», mit der man die Nutzung bestimmter Apps zeitlich beschränken kann. Ähnliches erlaubt die Funktion
«Bildschirmzeit» bei iPhones und iPads.

«Alles, was Selbstbegrenzung und Selbstreflexion fördert, ist sehr zu begrüßen», urteilt Sucht-Experte Rainer Thomasius.

Fotocredits: Christin Klose,Zacharie Scheurer,UKE,Philipp Masur,Robert Günther
(dpa)

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