Wie Streaming den Sound der Popmusik beeinflusst

By on 29. November 2018

Berlin – Es gibt da jemanden, der unsere Musikvorlieben sehr gut kennt. Der uns zum Joggen eine Playlist mit genau der Musik vorschlägt, zu der wir uns am liebsten bewegen. Der uns am Montag mit den Liedern versorgt, die uns am ehesten zum Aufstehen aufraffen.

Es sind Streaming-Anbieter wie Spotify oder Apple Music, die immer mehr Playlisten für alle möglichen Stimmungen und Genres im Angebot haben. Inzwischen ist Streaming in Deutschland der beliebteste Weg, um Musik zu hören – und die Anbieter reagieren darauf. Das hat aber nicht nur wirtschaftliche Auswirkungen. Streaming kann auch die Art verändern, wie Musik geschrieben und gehört wird.

Wann klickt ein Hörer weg?

Seit Mitte 2018 ist Audiostreaming das größte Umsatzsegment des deutschen Musikmarktes. Neben den Streaming-Anbietern hat das auch für die Labels Vorteile. Durch Datenanalysen ihrer gestreamten Musik können sie sehen, wann ein Hörer wegklickt – und darauf reagieren.

«Musik wird anders geschrieben, seit das Streaming so wichtig ist», erklärt der Musikwissenschaftler Martin Lücke. Zum einen sei der Anfang eines Liedes noch wichtiger geworden. Denn die Labels verdienen nur an einem Stream, wenn die Hörer einen Song länger als 30 Sekunden anhören. «Also versuche ich als Label alles dafür zu tun, dass der Hörer nicht wegklickt», sagt Lücke, der am Campus Berlin der Hochschule Macromedia Musikwirtschaft lehrt.

Die Musiker sind bei solchen Aussagen naturgemäß zurückhaltender. Der deutsche DJ Felix Jaehn, dessen Remix des Liedes «Cheerleader» von OMI ein Riesenhit war, sagt, er mache sich beim Musikproduzieren von solchen Überlegungen frei. «Ich muss allerdings sagen, dass die meisten meiner Songs ziemlich schnell auf den Punkt kommen und oft schon im Intro eine Hook haben», ergänzt er.

Lücke erzählt von Studien, die zeigen sollen, dass der Gesang bei Popliedern inzwischen immer früher einsetzt, um möglichst schnell die Aufmerksamkeit der Hörer zu erregen. Früher habe es Hits gegeben, die erst nach langen Intros richtig loslegten, zum Beispiel «I’d do anything for love» von Meat Loaf.

Welche Stimmung hat ein Song?

Neben dem Anfang eines Pophits wird die Stimmung eines Liedes wichtiger. «Ich komme nach Hause und sage zu Siri oder einem anderen Smart Speaker: «Jetzt spiel mir Chill Out-Musik»», sagt Peter Tschmuck, der an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien lehrt. Der Großteil der Konsumenten sei nicht so sehr daran interessiert, von wem ein bestimmter Song ist. Welche Musik man hört, sei stimmungsabhängig.

«Dinnertime Acoustics», «Deep Focus» oder «Movin‘ and Groovin’»: Lieder, die zu bestimmten Stimmungen oder Genres passen, werden von Redakteuren oder Algorithmen Playlisten zugeordnet. Was die Relevanz betrifft, sind Playlisten die neuen Alben, sind sich Lücke und Tschmuck sicher.

Eine beliebte Playlist bei Spotify heißt «Tropical House». Sie ist voller tanzbarer, poppiger Elektrohits, die irgendwie nach einem Pauschalurlaub in der Südsee klingen. Felix Jaehn ist einer der beliebtesten Vertreter des Genres. Er ist sich «ganz sicher», dass die «Tropical House»-Liste seinen Erfolg befördert hat. «Ich war einer der ersten Künstler, die 2014 über Spotify bekannt geworden sind», erzählt er. «Mittlerweile habe ich – allein bei Spotify – fast zwei Milliarden Streams auf meinen Songs und Remixen. Das ist verrückt und wäre sicherlich ohne die Genres-spezifischen Playlisten wie «Tropical House» nicht möglich.»

Wie kommt ein Titel auf die Playlist?

Für die Labels ist es besonders wichtig, Eingang in die Playlisten zu finden. «Es hat sich sehr schnell gezeigt, dass die Playlists ganz wichtige Tastemaker sind», sagt Tschmuck. Doch welchen Einfluss haben Labels auf die Streamingdienste?

Klar werde man von den Labels kontaktiert und stehe in Kontakt mit ihnen, erklärt Maik Pallasch, Leiter der deutschen Spotify-Musikredaktion. «Aber man kann als Lizenzgeber nicht bestimmen, ob und was in die Spotify-Playlists kommt.» Ein Sprecher von Apple Music möchte zur konkreten Zusammenarbeit mit Labels keine Angaben machen, betont aber ebenfalls die Unabhängigkeit der Redakteure, die die Playlisten bestücken. Inzwischen gebe es Tausende solcher kuratierter Listen.

Bei Spotify existieren alleine in Deutschland 400 kurartierte eigene Playlists, die täglich oder wöchentlich von insgesamt sechs Redakteuren neu bestückt werden. Zusätzlich gibt es bis zu 10 persönliche Playlists, die durch Algorithmen den Hörern für sie passende Musik vorschlagen. Insgesamt – samt der von Nutzern erstellten Playlisten – gibt es über zwei Milliarden Listen, wie Pallasch informiert.

Daraus könnte sich eine Art Eigendynamik entwickeln. «Manche Songwriter haben beim Komponieren womöglich den Sound eines bestimmten, bei den Streaming-Anbietern beliebten Genres im Kopf», überlegt Lücke. «Und es wird auf jeden Fall Versuche der Labels geben, Künstler zu suchen, die in bestimmte Playlisten passen.» Frank Briegmann, der Chef von Universal, widerspricht. «Wir wählen Künstler nach ihrem Talent und Potenzial aus», sagt er. Gleichzeitig räumt er ein: «In Genres wie zum Beispiel EDM oder Hip-Hop, in denen der Streaming-Anteil am Geschäft besonders groß ist, werden natürlich auch passende Playlists mit in die Überlegungen einbezogen.»

Wird sich Popmusik dadurch am Ende immer ähnlicher? So weit möchte die Experten nicht gehen. Dieser Vorwurf sei so alt wie die Popmusik selbst, sagt Tschmuck. Felix Jaehn ist sich sicher: «Musik funktioniert nicht nach Mustern, Formeln oder nach logischem Denken.» Und auch Lücke sieht es ähnlich. Man könne zwar viel durch Datenanalysen berechnen, erklärt er. «Aber am Ende gibt es in der Popmusik immer noch den Faktor des Unbekannten – zum Glück.»

Fotocredits: Britta Pedersen
(dpa)

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